Rechtsweg Verantwortlichkeitsklage

Nach Art. 75 BGG ist die Beschwerde in Zivilsachen (an das Bundesgericht) grundsätzlich nur gegen Entscheide zulässig, die ein oberes kantonales Gericht als Rechtsmittelinstanz gefällt hat (Prinzip der „double instance“ im Bereich des Zivilrechts). Ausgenommen ist gemäss Art. 75 Abs. 2 BGG unter anderem der Fall, dass ein Bundesgesetz eine einzige kantonale Instanz vorsieht (lit. a). In einem neueren Urteil konnte das Bundesgericht klarstellen, dass Art. 454 ZGB kein solcher Ausnahmefall vorsieht.

Für Kantone, welche in ihrem Recht vorsehen, die Verantwortlichkeitsklage müsse bei der oberen kantonalen Instanz einzureichen sein (wie im vorliegenden Fall der Kanton Thurgau), hat dies zur Folge, dass der Kanton ein kantonales Rechtsmittel erschaffen muss. Solange dies nicht geschehen ist, bleibt für die Behandlung des kantonalen Rechtsmittels gegen den Entscheid der oberen kantonalen Instanz diese Instanz selber zuständig. Diese muss dann in anderer Besetzung über das kantonale Rechtsmittel entscheiden.

Für die Praxis von Bedeutung ist diese Rechtsprechung insbesondere für Kantone, welche ihr Verwaltungsgericht als sachlich zuständig für die erstinstanzliche Behandlung von Verantwortlichkeitsklagen bezeichnet haben. Dies, weil die Kantone regelmässig kein erstinstanzliches sowie zweitinstanzliches Verwaltungsgericht kennen.

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Unterbringung von Kindern in Gefängnissen

Die Medien haben vor einigen Monaten darüber berichtet, dass Jugendliche durch die KESB ausnahmsweise temporär in Gefängnissen untergebracht werden (bzw. mangels Alternativen dort untergebracht werden müssen). Diese Berichte haben unter anderem zu einer Interpellation geführt, welche der Bundesrat nun beantwortet hat. Die Antwort findet sich hier.

Über die eigentliche Thematik hinaus von Interesse ist die Ankündigung des Bundesrates, wonach derzeit die Machbarkeit einer Statistik auf Bundesebene geprüft werde, welche insbesondere alle ausserfamiliär untergebrachten Minderjährigen erfasst (die Ergebnisse dieser Machbarkeitsstudie würden Mitte 2024 vorliegen). Dies wäre eine sehr willkommene Entwicklung.

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Entscheid vor Ablauf der Rechtsmittelfrist?

In einem neueren Urteil hat das Bundegericht dargelegt, inwiefern die (kantonale) Beschwerdeinstanz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist einen Entscheid treffen darf.

Das Gericht hielt fest, aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs lasse sich keine generelle Regel darüber aufstellen, ob über ein Rechtsmittel vor Ablauf der Rechtsmittelfrist entschieden werden darf oder nicht. Diese Frage sei vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und der Interessen der Beteiligten zu beantworten. Es seien durchaus Fälle denkbar, in denen ein rasches Vorgehen der Beschwerdeinstanz berechtigt sei und sogar im Interesse der das Rechtsmittel erhebenden Person liege. Zu prüfen sei, ob eine als abschliessend verstandene Rechtsmitteleingabe vorliege oder ob mit einer Ergänzung zu rechnen sei. Treffe das zweite zu und liefere die das Rechtsmittel erhebende Partei noch form- und fristgerecht eine Ergänzung nach, so laufe eine vorweggenommene Erledigung auf eine unzulässige Verkürzung der gesetzlich zwingend geregelten Rechtsmittelfrist hinaus und verletze damit das rechtliche Gehör. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Rechtsmittelinstanz nicht bereit sei, die Sache gestützt auf die form- und fristgerecht erfolgte Eingabe – im Rahmen des geltenden Prozessrechts – neu zu beurteilen.

Im vorliegenden Fall hielt der Beschwerdeführer in der Beschwerde folgendes fest: „Mein Anwalt wird die rechtlichen Aspekte einbringen (eigene Anmerkung: d.h. nach Ende der Beschwerdefrist, vgl. Art. 439 Abs. 2 ZGB), aber ich übe den Rechtsbehelf bereits innerhalb von 10 Tagen aus“. Entgegen der Vorinstanz gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass diese Formulierung unklar gewesen sei und die Vorinstanz jedenfalls nicht in guten Treuen davon ausgehen durfte, dass eine abschliessende Rechtsmitteleingabe vorliege. Sie hätte deshalb im Grundsatz mit ihrem Entscheid mindestens den Ablauf der Rechtsmittelfrist abwarten müssen.  Der kantonalen Beschwerdeinstanz kam aber zu Gute, dass der Beschwerdeführer innert der Frist gemäss Art. 439 Abs. 2 ZGB gar keine anwaltliche Eingabe eingereicht hatte. Damit war eine tatsächliche Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht dargetan. 

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Gesundheitsbefragung

Gestern hat das Bundesamt für Statistik die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung 2022 veröffentlicht. Diese ist insbesondere auch in Bezug auf psychosoziale Aspekte (Konsum von Psychopharmaka, Konsum harter Drogen, Angststörungen, Soziale Unterstützung etc.) von Interesse. Die Statistiken finden sich hier.

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Weisung Kennenlernen Vater (im Zusammenhang mit der Regelung des Besuchskontaktes)

Diverse Medien haben gestern über einen neuen (zur Publikation vorgesehenen) Bundesgerichtsentscheid berichtet, welchem folgender Sachverhalt zu Grunde lag: C, geboren 2012, ist der Sohn von nicht miteinander verheirateten, getrennt lebenden Eltern. Die Mutter hat die alleinige elterliche Sorge über C inne. Der Vater wurde wegen schwerer Sexualdelikte, unter anderem wegen Vergewaltigung von C.s Halbschwester verurteilt und befindet sich seit 2015 im Strafvollzug. Am 18. November 2021 verfasste der Vater ein Schreiben an die KESB, in welchem er sein Interesse an Kontakten mit seinem Sohn bekundete und (erneut) eine Kontaktaufnahme mit C beantragte. Nachdem sich die Mutter der Kontaktaufnahme widersetzte, ordnete die KESB folgende Weisung gegenüber der Mutter an:

„Zum Wohle und im Interesse von C wird die Kindsmutter gestützt auf Art. 273 Abs. 2 ZGB angewiesen, ihren Sohn durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) W über seinen Vater aufklären zu lassen, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich mit seinem Vater auseinander zu setzen, damit zu einem späteren Zeitpunkt dem Kindsvater allenfalls ein Kontaktrecht eingeräumt werden kann. Die Kindsmutter wird angewiesen, sich bis am 30.11.2022 bei Dr. E, KJP W, für eine Terminvereinbarung zu melden.“  Überdies ersuchte die KESB die KJP W um Mitteilung, falls die Kindsmutter dieser Weisung nicht Folge leisten sollte. Die kantonale Beschwerdeinstanz schützte diese Weisung, nicht aber das Bundesgericht.

Zunächst hielt das Bundesgericht zu Recht fest, Art. 273 Abs. 2 ZGB sei nicht eine taugliche Rechtsgrundlage für die vorliegende Weisung, da die vorgenannte Bestimmung „nur“ Weisungen umfasst, welche an eine behördliche Regelung des persönlichen Verkehrs anknüpfen. Vorliegend bestehe eine solche Regelung aber gerade nicht.

Demnach könne die Weisung der KESB „nur“ auf Art. 307 Abs. 3 ZGB ergehen. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung waren teilweise nicht dargelegt (Vorliegen einer Gefährdung) bzw. waren teilweise nicht erfüllt (Verhältnismässigkeit der Massnahmen).

Zur Kindeswohlgefährdung hatte die Vorinstanz dargelegt, die Kindesschutzmassnahme (also die Weisung) würde das Kindeswohl nicht gefährden. Wie das Bundesgericht zu Recht kritisiert, hat die Vorinstanz damit die Frage der Gefährdung falsch gestellt: Es geht nicht darum, ob eine Kindesschutzmassnahme das Wohl des Kindes gefährdung würde. Vielmehr darum, ob ohne Kindesschutzmassnahme eine Kindeswohlgefährdung vorliegen würde. Vorliegend also, ob die Unkenntnis von C über seinen Vater C’s Wohl gefährdet. Gemäss Bundesgericht ist dafür entscheiden, ob C überhaupt schon die Reife erreicht hat, die eine Konfrontation mit den Gründen für die Inhaftierung seines Vaters und eine Auseinandersetzung mit diesen Fakten voraussetzt. Solange dies nicht der Fall sei, könne der Verzicht auf die Aufklärung nicht als Kindeswohlgefährdung erscheinen.

Letztlich konnte das Bundesgericht die Frage nach der Reife mit Verweis auf die (fehlende) Verhältnismässigkeit der Weisung offen lassen: Zu berücksichtigen war nämlich, dass die Aufklärung von C über seinen Vater im Zusammenhang mit der Regelung des Besuchskontaktes zwischen Vater und Sohn ergehen sollte. Aufgrund der diesbezüglich geltenden Untersuchungsmaxime (Art. 275 Abs. 1 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 und Art. 446 Abs. 1 ZGB), hätte gemäss Bundesgericht die KESB – nicht die Mutter – die fachmännische Aufklärung des Kindes durch eine Drittperson oder eine entsprechende Begutachtung veranlassen müssen (wobei eine solche Aufklärung nur in Frage gekommen wäre, wenn die Aufnahme persönlicher Kontakte überhaupt in Frage kommt).

Über den vorliegenden Fall von Bedeutung werden die Ausführungen des Bundesgerichts zum Umstand sein, dass die KESB die KJP W um Mitteilung ersucht hat, falls die Kindsmutter dieser Weisung nicht Folge leisten sollte. Solche Anordnungen kommen in der Praxis oft vor. Gemäss Bundesgericht übersehen sie aber, dass Ärztinnen und Ärzte genauso wie Psychologinnen und Psychologen aufgrund ihres Berufsgeheimnisses (Art. 321 StGB) ohne Einwilligung des Klienten bzw. dessen gesetzlichen Vertreters oder behördliche Entbindung vom Berufsgeheimnis Dritten gegenüber nicht einmal die Tatsache erwähnen dürfen, dass ihr Klient bei ihnen in ärztlicher oder psychologischer Behandlung ist.

 

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Übersicht über Änderungen im Erwachsenenschutz per 1.1.2024

Per 1.1.2024 sind im Erwachsenenschutz folgende Änderungen in Kraft getreten (exklusive kantonaler Revisionen):

  • Totalrevision der VBVV
  • Revision von Art. 449c ZGB (Mitteilungspflichten der KESB) und – damit verbunden – Aufhebung von Art. 395 Abs. 4 ZGB
  • Revision von Art. 451 Abs. 2 ZGB (Auskunft über das Vorliegen und die Wirkungen einer Erwachsenenschutzmassnahmen)

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Ombudsstelle für Kinderrechte

Mitte Dezember hat der Bundesrat eine Vernehmlassung zur Änderung der Kinder- und Jugendförderungsverordnung lanciert. Durch die Änderung der Verordnung soll das Bundesamt für Sozialversicherungen eine geeignete Kinderrechtsorganisation beauftragen, jene Aufgaben zur Stärkung der Kinderrechte wahrzunehmen, welche nach Auffassung der Verordnungsgeberin sinnvollerweise auf Bundesebene anzusiedeln seien. Dazu würden
der Wissensaufbau, Analysen zur Umsetzung der Kinderrechte in der Schweiz, die Beratung von Behörden und die Vernetzung der Akteure gehören. Die Vernehmlassung dauert bis zum 29. März 2024. Die Unterlagen dazu finden sich hier.

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Winterpause!

Der KESR-Blog geht in die Winterpause. Ich möchte mich anlässlich dieser Gelegenheit für das rege Interesse am Blog bedenken und allen Lesenden eine schöne Weihnachtszeit wünschen.

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WHO Leitlinien für die Gesetzgebung zur psychischen Gesundheit

Die WHO hat neue Leitlinien für die Gesetzgebung zur psychischen Gesundheit verabschiedet. In den Leitlinien werden nach Beschreibung der WHO neue Ziele für die Gesetzgebung vorgeschlagen, darunter ein klarer Auftrag an die psychischen Gesundheitssysteme, einen rechtebasierten Ansatz zu verfolgen. Sie skizzieren gesetzliche Bestimmungen, die erforderlich sind, um die Deinstitutionalisierung und den Zugang zu qualitativ hochwertigen, personenzentrierten gemeindenahen psychosozialen Diensten zu fördern. Es wird hervorgehoben, wie Gesetze gegen Stigmatisierung und Diskriminierung vorgehen können, und es werden konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Zwang in psychosozialen Diensten zugunsten von Praktiken genannt, die die Rechte und die Würde der Menschen achten. Die Leitlinien enthalten nach Beschreibung der WHO auch wichtige Informationen darüber, wie bei der Überprüfung, Verabschiedung, Umsetzung und Bewertung von Gesetzen zur psychischen Gesundheit ein menschenrechtsbasierter Ansatz verfolgt werden kann, sowie eine praktische Checkliste, anhand derer die Staaten prüfen können, ob ihre Gesetze mit den geltenden Menschenrechtsstandards übereinstimmen.

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Öffentliche und mündliche Verhandlung im kantonalen Beschwerdeverfahren

Das Bundesrecht sieht eine persönliche Anhörung im kantonalen Beschwerdeverfahren nur auf dem Gebiet der FU vor (vgl. Art. 450e Abs. 4 ZGB). Das kantonale Recht sieht regelmässig keine weitergehende Anhörungspflicht im Beschwerdeverfahren vor. Eine Pflicht zur öffentlichen und mündlichen Verhandlung ergibt sich aber aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Mit dieser Bestimmung hat sich das Bundesgericht in einem neueren Urteil beschäftigt.

Demnach kann die Öffentlichkeit bei familienrechtlichen Angelegenheiten im weiteren Sinne (in denen sich wie hier der Staat und eine Privatperson gegenüber stehen) nicht pauschal unter Hinweis auf den in Art. 6 Ziff. 1 EMRK als Ausschlussgrund genannten „Schutz des Privatlebens der Prozessparteien“ ausgeschlossen werden. Vielmehr muss ein solcher Ausschluss auf eine öffentliche und mündliche Verhandlung mit den konkreten Umständen des Einzelfalls begründet werden.

Da die Vorinstanz solche Umstände nicht dargetan hatte, stellte sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin explizit oder implizit auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung verzichtet hat. Obwohl die Beschwerdeführerin eine öffentliche und mündliche Verhandlung beantragt hatte, ging die Vorinstanz von einem impliziten Verzicht aus.

Dies einerseits mit der Begründung, die Beschwerdeführerin habe das Gesuch nicht begründet. Hierzu hielt das Bundesgericht zu Recht fest, eine solche Begründung sei nicht erforderlich (auch nicht, nachdem die Vorinstanz das Gesuch um öffentliche und mündliche Verhandlung abgewiesen hatte).

Andererseits vertrat die Vorinstanz die Ansicht, die Beschwerdeführerin habe auf die Verhandlung verzichtet, weil sie die verfahrensleitende Verfügung, mit welcher die Vorinstanz das Gesuch abgewiesen hatte, nicht beim Bundesgericht angefochten hat. Das Bundesgericht stellte fest, hierzu sei die Beschwerdeführerin nach Massgabe von Art. 93 Abs. 3 BGG nicht verpflichtet gewesen. Zudem liessen sich dem angefochtenen Entscheid keinerlei Sachverhaltselemente entnehmen, die den eindeutigen Schluss zulassen würden, dass die Beschwerdeführerin durch ihr Schweigen nach Abweisung ihrer Anträge auf ihren Anspruch auf eine öffentliche und mündliche Verhandlung verzichtet hätte.  

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