Die FU als migrationsrechtliche Vollzugsmassnahme (?)

Dass die fürsorgerische Unterbringung in der Praxis zwischen der Gewährleistung privater und öffentlicher Interessen mäandert, zeigt ein neues Urteil des Bundesgerichts im migrationsrechtlichen Kontext anschaulich. Das Gericht musste über die Vollstreckung der Wegweisung einer Person entscheiden, welcher an einer psychischen Erkrankung leidet. Das Bundesgericht legte dar, bei „kritischen Krankheitsbildern“, welche auch im Heimatland behandelt werden können, müsse der Vollzug der Wegweisung sorgfältig geplant und durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang hielt das Bundesgericht fest, allenfalls sei die Möglichkeit einer fürsorgerischen Unterbringung in zeitlicher Nähe zum Wegweisungsvollzug zu prüfen.

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Bessere Kommunikation

Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes 76 hat ein Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Gabriela Antener im Projekt «Behörden in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderung» untersucht, wie sich die Kommunikation der Behörden im Laufe der Zeit verändert hat, und aufgezeigt, wo Verbesserungsbedarf besteht. Daraus entstanden sind Leitfäden zur besseren Kommunikation im Erwachsenenschutzrecht. Die Unterlagen finden sich hier.

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Ausstand am Strafverfahren wegen Beteiligung an einem Kindesschutzverfahren (zwischen den gleichen Parteien)?

Das Bundesgericht musste sich in einem neueren Urteil mit der Frage beschäftigen, ob die Beteiligung an einem Kindesschutzverfahren zu einem Ausstand an einem Strafverfahren führt, wenn die gleichen Personen an den Verfahren beteiligt sind. Diese Frage kann dort relevant sein, wo die KESB in einem Gerichtsmodell organisiert sind. So im Kanton Aargau.

Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau erhob Anklage gegen einen Mann, unter anderem wegen mehrfacher Tätlichkeit zum Nachteil des Sohnes seiner Ex-Partnerin. In der Folge beantragte der Mann den Ausstand des Gerichtspräsidenten. Er machte hierfür unter anderem geltend, der Präsident habe bereits als Mitglied des Familiengerichts mit den gleichen Parteien im Zusammenhang mit dem Besuchskontakt mitgewirkt und als Familienrichter eine Gefährdung des Sohnes seiner Ex-Partnerin bejaht, aufgrund der zu behandelnden Anzeige. Zudem habe der Gerichtspräsident den Prozessbeistand des Sohnes im Strafverfahren eingesetzt. Deshalb liege eine Vorbefassung im Strafverfahren gemäss Art. 56 lit. b StPO vor (Tätigwerden als Mitglied einer Behörde in der gleichen Sache).

Das Bundesgericht hat das Ausstandsgesuch abgewiesen. Aus materieller Sicht hat es – soweit interessierend – festgehalten, eine «gleiche Sache» im Sinne von Art. 56 lit. b StPO liege nicht vor, wenn ein Gerichtsmitglied neben dem Strafverfahren an einem Kindesschutzverfahren zwischen den gleichen Parteien beteiligt ist: Die Ursachen der Gefährdung – und  damit ein allfällig strafrechtlich relevantes Verhalten – seien im Kindesschutzverfahren nämlich unerheblich. Im Straf- und im Kindesschutzverfahren waren damit nicht identische Fragestellungen zu beurteilen. Dies gelte auch für den Entscheid über die Einsetzung des Prozessbeistandes. Dort sei nämlich einzig massgebend gewesen, ob eine Interessenkollision vorläge.

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Zeitpunkt Rechtshängigkeit; Endentscheid bei blossem Gesuch um vorsorgliche Massnahmen

In einem neueren, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil hat das Bundesgericht die Frage offen gelassen, inwiefern das kantonale Recht den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit eines KESR-Verfahrens regeln darf (bzw. inwiefern das Bundesrecht hierfür massgebend ist). Es hat aber festgehalten, dass ein KESR-Verfahren spätestens eröffnet (und damit rechtshängig) ist, wenn die KESB eine vorsorgliche oder superprovisorische Massnahme anordnet. Dies, weil gemäss dem Bundesrecht ein Verfahren vor der KESB von Amtes wegen (inkl. auf eine Gefährdungsmeldung hin) oder aufgrund eines Antrages (z.B. auf Erlass vorsorglicher Massnahmen) eröffnet werden kann.

Weiter ist das Gericht zum Schluss gekommen, die KESB dürfe auch dann einen Endentscheid erlassen, wenn die Parteien in ihrem Gesuch nur vorsorgliche Massnahmen beantragen. Dies erscheint für den Kindes- und Erwachsenenschutz konsequent, zumal die KESB ja das Hauptverfahren ja auch von Amtes wegen eröffnen kann.

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Anerkennung von Ehen Minderjähriger

Mit dem Ziel, Heiraten von minderjährigen Personen wirksamer zu bekämpfen und den Schutz der Betroffene zu erhöhen, verabschiedete das Parlament am 14. Juni 2024 die entsprechende Revision insbesondere des Zivilgesetzbuches (ZGB) und des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG). Nun hat der Bundesrat die Änderung per 1. Januar 2025 in Kraft gesetzt. Mehr Informationen zur Revision finden sich hier.

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Kostenfrage als Kriterium einer FU?

Einen kreativen Ansatz wählte einen Beschwerdeführer in einem neueren bundesgerichtlichen Urteil, um eine fürsorgerische Unterbringung abzuwenden. Er machte geltend, die fürsorgerische Unterbringung in einem Altersheim würde für die Öffentlichkeit unverhältnismässige finanzielle Konsequenzen haben. Wenig überraschend, überzeugte diese Argumentation das Bundesgericht nicht. Es hielt fest, die Kostenfrage sei kein Kriterium für die fürsorgerische Unterbringung. 

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Unterbringung Minderjähriger in geschlossenen Einrichtungen

Die KESB Winterthur-Andelfingen hat eine Richtlinie zur Unterbringung von Minderjährigen in geschlossenen Einrichtungen erarbeitet. Dabei ist sie zum Schluss (sowie zur Haltung der Behörde) gelangt, eine geschlossene Unterbringung als pädagogische Massnahme sei aus rechtlichen, entwicklungspsychologischen und pädagogischen Gründen fragwürdig und unnötig. Folglich seien zivilrechtliche Unterbringungen in
Einrichtungen, welche mit pädagogischen Konzepten arbeiten, die einen Einschluss vorsehen, in konkreten Fällen keine Handlungsoption. Die Richtlinie stellt einen wertvollen Beitrag in der Debatte dar, ob der Einschluss von Minderjährigen eine sinnvolle Massnahme darstellt (bzw. zivilrechtliche Unterbringungen in Einrichtungen, die einen Einschluss vorsehen, zulässig sind).

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Notfallsituation (Verzicht auf lebensrettende Massnahmen): Rolle der Urteilsfähigkeit und Stellenwert einer Patientenverfügung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) musste über einen neuen Fall über die Prinzipien entscheiden, welche bei der Verweigerung einer (lebensrettenden) Behandlung in einer Notfallsituation gelten.

Der EGMR hielt fest, dass auch in Notfallsituationen der Grundsatz gelte, dass urteilsfähige Patient:innen verbindlich über einen medizinischen Eingriff entscheiden können, nachdem sie fachgerecht über alle entscheidungsrelevanten Informationen aufgeklärt worden sind (vgl. § 146 ff.). Damit setzen Art. 379 ZGB sowie Art. 435 ZGB die Urteilsunfähigkeit der betroffenen Person voraus (wie aus dem Wortlaut von Art. 379 Abs. 2 implizit, aus dem Wortlaut von Art. 435 ZGB jedoch nicht klar hervorgeht).

Der Gerichtshof hielt weiter fest, Ärzt:innen müssten angemessene Anstrengungen unternehmen, um Zweifel oder Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Verweigerung der Behandlung auszuräumen. Dies gelte unter anderem bei Zweifel an der Urteilsfähigkeit (vgl. § 143). Wenn Ärzt:innen trotz angemessener Bemühungen, den Willen der Patient:in, auf eine lebensrettende medizinische Behandlung zu verzichten, nicht im erforderlichen Umfang feststellen könnten (inkl. Feststellung der Urteilsfähigkeit), gehe die Pflicht zum Schutz des Leben einer Patient:in vor (vgl. § 149 f.). Mit anderen Worten gilt die Vermutung der Urteilsfähigkeit nicht, wenn eine Person auf lebensrettende Massnahmen verzichtet und eine Notfallsituation vorliegt (vgl. § 143).

Der Vorrang des Lebens gilt aber gemäss dem EGMR nicht unbeschränkt. Das Gericht stellte fest, eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedstaaten des Europarates verfüge über spezifische Bestimmungen und Regelungen für Patientenverfügungen sowie für die Berücksichtigung früher geäusserter Wünsche. Diese Regelungen würden aber divergieren. Es falle deshalb in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten der EMRK, Patientenverfügungen eine verbindliche Rechtswirkungen zuzuweisen (§ 153). Sehe ein Staat vor, dass Patientenverfügungen rechtsverbindlich sind, müsse er aber sicherstellen, dass das diesbezügliche System effektiv funktioniere (§ 156).

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