Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) musste über einen neuen Fall über die Prinzipien entscheiden, welche bei der Verweigerung einer (lebensrettenden) Behandlung in einer Notfallsituation gelten.
Der EGMR hielt fest, dass auch in Notfallsituationen der Grundsatz gelte, dass urteilsfähige Patient:innen verbindlich über einen medizinischen Eingriff entscheiden können, nachdem sie fachgerecht über alle entscheidungsrelevanten Informationen aufgeklärt worden sind (vgl. § 146 ff.). Damit setzen Art. 379 ZGB sowie Art. 435 ZGB die Urteilsunfähigkeit der betroffenen Person voraus (wie aus dem Wortlaut von Art. 379 Abs. 2 implizit, aus dem Wortlaut von Art. 435 ZGB jedoch nicht klar hervorgeht).
Der Gerichtshof hielt weiter fest, Ärzt:innen müssten angemessene Anstrengungen unternehmen, um Zweifel oder Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Verweigerung der Behandlung auszuräumen. Dies gelte unter anderem bei Zweifel an der Urteilsfähigkeit (vgl. § 143). Wenn Ärzt:innen trotz angemessener Bemühungen, den Willen der Patient:in, auf eine lebensrettende medizinische Behandlung zu verzichten, nicht im erforderlichen Umfang feststellen könnten (inkl. Feststellung der Urteilsfähigkeit), gehe die Pflicht zum Schutz des Leben einer Patient:in vor (vgl. § 149 f.). Mit anderen Worten gilt die Vermutung der Urteilsfähigkeit nicht, wenn eine Person auf lebensrettende Massnahmen verzichtet und eine Notfallsituation vorliegt (vgl. § 143).
Der Vorrang des Lebens gilt aber gemäss dem EGMR nicht unbeschränkt. Das Gericht stellte fest, eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedstaaten des Europarates verfüge über spezifische Bestimmungen und Regelungen für Patientenverfügungen sowie für die Berücksichtigung früher geäusserter Wünsche. Diese Regelungen würden aber divergieren. Es falle deshalb in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten der EMRK, Patientenverfügungen eine verbindliche Rechtswirkungen zuzuweisen (§ 153). Sehe ein Staat vor, dass Patientenverfügungen rechtsverbindlich sind, müsse er aber sicherstellen, dass das diesbezügliche System effektiv funktioniere (§ 156).